Agentic AI und CX: Warum neue Technologie auch neues Denken braucht

Was passiert, wenn KI nicht nur assistiert, sondern eigenständig handelt?

Diese Frage sorgt aktuell für Bewegung im Customer Experience Management.

Denn mit dem Aufkommen von Agentic AI rückt ein neues Technologieversprechen ins Zentrum: Intelligente Systeme, die selbstständig agieren, Entscheidungen treffen und komplexe Abläufe steuern, und dabei nicht nur effizient, sondern auch empathisch im Sinne der Kund:innen agieren sollen.

Doch wie realistisch ist dieses Bild? Was bedeutet Agentic AI konkret für das CX-Management und welche Verantwortung geht mit der Einführung solcher Systeme einher?

Einordnung: Was hinter Agentic AI steckt

Der Begriff „Agentic AI“ beschreibt eine neue Entwicklungsstufe intelligenter Systeme. Im Gegensatz zu herkömmlicher Automatisierung, die vor allem auf regelbasierte Abläufe und Reaktionen setzt, geht es bei Agentic AI um Systeme mit Zielorientierung: digitale Agenten, die eigenständig handeln, Entscheidungen vorbereiten oder treffen und situativ mitdenken können. Sie agieren also nicht bloß reaktiv, sondern proaktiv und sollen komplexe Aufgaben selbstständig ausführen.

Das klingt nach Science-Fiction, ist aber bereits Bestandteil vieler Digitalstrategien. Laut aktuellen Studien haben über 80 % der Unternehmen bereits KI-basierte Konversationslösungen im Einsatz. Mehr als die Hälfte plant, diese um autonome Agenten zu erweitern – in der Hoffnung auf mehr Effizienz, niedrigere Kosten und schnellere Prozesse.

Zwischen Erwartung und Wirklichkeit

Die Erwartungen an Agentic AI sind hoch. Führungskräfte versprechen sich massive Effizienzgewinne, Mitarbeitende erhoffen sich Entlastung bei repetitiven Aufgaben und Kund:innen erwarten intelligenteren, personalisierteren Service.

Doch die Realität ist komplexer. Aktuelle Systeme zeigen viel Potenzial, agieren jedoch meist nur in eng definierten Umgebungen stabil. Adaptive, wirklich selbstständig denkende Agenten, die in dynamischen Kundensituationen souverän agieren, sind noch eher Zielbild als Realität.

Ein häufiger Denkfehler: Intelligente Agenten werden oft als autonome Problemlöser dargestellt; dabei funktionieren sie nur dann sinnvoll, wenn ihr Handlungsrahmen klar definiert ist.

Ohne transparente Entscheidungslogik und abgestimmte Handlungsmöglichkeiten können sie zwar Prozesse abbilden, aber keine echten Kundenerlebnisse gestalten.

Technik allein reicht nicht: es braucht ein neues Enablement

Damit Agentic AI im CX-Management nicht zur leeren Hülle wird, braucht es ein Umdenken: weg vom reinen Tool-Einsatz, hin zu einer strategischen, erlebnisorientierten Gestaltung. Drei Aufgabenfelder rücken dabei ins Zentrum:

1. Entscheidungslogiken und Aktionsräume gestalten

Agenten agieren auf Basis von Regeln, Prioritäten und verfügbaren Aktionen. Diese müssen von Menschen definiert werden mit einem klaren Ziel: Entscheidungen, die im Sinne der Kundenerwartung getroffen werden. CX-Teams übernehmen hier eine neue Rolle: Sie gestalten nicht nur Prozesse, sondern auch Entscheidungsarchitekturen. Wer Experience-Qualität sichern will, muss verstehen, wie digitale Agenten “denken”.

2. Governance und Steuerung von Agentenprozessen etablieren

Agenten entwickeln Dynamik und damit auch Risiken. Ohne Governance laufen Unternehmen Gefahr, die Kontrolle über ihre CX-Prozesse zu verlieren. Es braucht daher neue Steuerungsmodelle, die nicht nur technische Stabilität gewährleisten, sondern auch die Kundenerlebnisqualität absichern. Dazu gehören kontinuierliches Monitoring, Feedback-Schleifen und klare Eskalationsregeln.

3. Fachbereiche befähigen

Viele Systeme setzen heute auf Low-Code- oder No-Code-Ansätze, um Fachabteilungen die Prozessgestaltung zu erleichtern. Doch wer Agenten „trainiert“ oder Regeln definiert, beeinflusst direkt das Kundenerlebnis. CX-Management muss daher Enablementstrukturen schaffen, die methodisches Wissen, Experience-Kompetenz und Verantwortungsbewusstsein fördern und so eine Brücke zwischen Technologie und Erlebnis bauen.

Der blinde Fleck: Effizienz als alleiniger Maßstab

Ein zentrales Problem: In vielen Diskussionen rund um Agentic AI steht das Effizienzversprechen im Vordergrund. Die Systeme sollen Prozesse automatisieren, Durchlaufzeiten senken und Kosten sparen. All das ist legitim, doch im CX-Kontext nicht ausreichend.

Denn Customer Experience ist mehr als Effizienz. Sie lebt von Relevanz, Empathie und emotionaler Bindung. Ein „korrekt“ durchgeführter Prozess ist noch kein gutes Erlebnis – besonders dann nicht, wenn er unpersönlich, unverständlich oder frustrierend wirkt. Agentic AI sollte deshalb nicht als reiner Produktivitätshebel gedacht werden, sondern als Mittel zur Individualisierung und Erlebnisverbesserung.

Die zentrale Leitfrage sollte lauten: Wie kann ein Agentensystem helfen, das Kundenerlebnis menschlicher, relevanter und kontextsensitiver zu gestalten? Und nicht nur schneller?

Neue Technologien brauchen neues Denken in der Organisation

Die Einführung von Agentic AI verändert nicht nur Systeme, sondern auch Rollen. CX-Verantwortliche übernehmen neue Aufgaben, bspw. als Gestalter:innen von Entscheidungssystemen, als Brückenbauer:innen zwischen Technologie und Fachbereich, als Garanten für erlebnisorientierte Governance.

Daraus ergeben sich neue Anforderungen:

  • Strategisches Verständnis für KI-getriebene Prozesse
  • Erfahrung in Journey-Design und Entscheidungsarchitekturen
  • Wissen über Governance, Compliance und Ethik im digitalen Kundendialog
  • Fähigkeit, interdisziplinäre Teams zu orchestrieren

Wer Agentic AI ernsthaft in die Organisation integriert, muss diese Rollen aktiv entwickeln, bspw. durch gezielte Weiterbildung, neue Verantwortungsmodelle und eine offene Innovationskultur.

Fazit: Zwischen Potenzial und Verantwortung

Agentic AI verändert das CX-Management: nicht nur technisch, sondern auch konzeptionell.

Die Systeme versprechen Effizienz, aber ihr wahres Potenzial liegt in der Fähigkeit, Erlebnisse zu verbessern. Dieses Potenzial lässt sich nur heben, wenn Unternehmen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen: für klare Regeln, sinnvolle Gestaltung und ein Enablement, das Technologie und Mensch zusammendenkt.

Fünf Impulse für CX-Verantwortliche:

  1. Begriffe schärfen: Klare Definitionen zu Agentic AI und Entscheidungslogiken schaffen ein gemeinsames Verständnis.
  2. Systeme erlebnisorientiert gestalten: Technologieeinsatz immer mit der Frage verbinden: Was bringt das für unsere Kund:innen?
  3. Enablement priorisieren: Fachabteilungen brauchen Know-how und Methodenkompetenz, nicht nur Tools.
  4. Governance weiterentwickeln: CX braucht ein Regelwerk, das Sicherheit und Erlebnisqualität gleichermaßen im Blick hat.
  5. Erwartungen realistisch halten: Agenten sind keine Magie. Sie können viel, aber nicht alles. Die richtige Balance zählt.

So wird Agentic AI nicht zur Enttäuschung, sondern zum echten Fortschritt für Kund:innen, Teams und Unternehmen.